Eine Frage der Haltung – Rezension in der Zeitschrift Systhema

In ihren beiden Erzählungsbänden Und ich lebe doch! (2017) und MittenDrin (2021) stellt Kristina Sellmayr die Gretchenfrage unserer Zeit: Wie hältst du es mit der Integration? Sie berichtet uns von geflüchteten Jugendlichen und Kindern. Von Mädchen und Jungen, die ihre Heimat aufgrund von Krieg und Gewalt verlassen mussten, oftmals ganz allein, und die schließlich unter menschenunwürdigen Bedingungen nach Europa, nach Berlin gekommen sind.

Doch nicht diese grausigen und traurigen Schicksale stehen im Mittelpunkt. Kristina Sellmayr erzählt vielmehr die andere Seite der Medaille. Es geht ihr um das Prinzip Hoffnung. Ernst Bloch, der Philosoph der Hoffnung, schrieb sinngemäß bereits 1961: Hoffnung muss schlechterdings immer enttäuschbar sein. Denn in der Ent-Täuschung liegt das Potenzial, das auf etwas Zukünftiges und damit Besseres verweist.

So betont Kristina Sellmayr in ihren Erzählungen die Freude der Kinder, ihren Lebensmut, ihre Entwicklung und ihre Kreativität. Glück liegt oftmals im kleinsten Detail, sei es die bestandene Schulprüfung, eine neue Freundschaft oder ein gelungener Klassenausflug auf der Spree. All das hat den Zauber des (Neu-)Anfangs im Hier und Jetzt inne. Dabei verschweigt Sellmayr niemals, wie brüchig diese kurzen positiven Momente sein können. Dass Hoffnung oftmals nur ein flüchtiger Kuss des Glücks ist.

Feinfühlig und sprachlich stets elegant verschweigt die Autorin nicht, wie tief die seelischen Verletzungen teilweise sind, mit denen die Kinder – aber auch die Eltern – zu kämpfen haben. Betont aber, dass es immer Lösungsmöglichkeiten gibt, wenn man nur bereit ist, sich auf jemand anderen einzulassen, sich gegenseitig zu akzeptieren.

Ernst Bloch spricht vom Umbau der Welt in Heimat. Kristina Sellmayr zeigt, wie das konkret zu verstehen ist. Sie geht weg von gängigen stereotypen Vorurteilen, betreibt stattdessen aktiv eine Ent-Täuschung, indem sie die Wirklichkeit zu Wort kommen lässt. Und schafft so eine Heimat, die in der Hoffnung wurzelt.

Die Erzählungen in dem beiden schmalen, aber sehr inhaltsreichen Bänden basieren auf Erlebnissen ihrer täglichen Arbeit. Kristina Sellmayr arbeitet seit Jahren als Sozialpädagogin und Familientherapeutin. Seit 2013 unterrichte sie zusätzlich Willkommensklassen für geflüchtete Kinder.

Zugleich zeigt sie sich als große Schriftstellerin, die sich einfühlsam und differenziert, dabei stets mit Empathie und auf höchstem ästhetischen, aber auch intellektuellen Niveau mit dem Thema Flucht, Ankunft und den Folgen beschäftigt.

Gleichzeitig sind ihre Texte hochpolitisch, weil sie auf das verweisen, was in unserer Gesellschaft gerne an den Rand gedrängt wird. Ihre Erzählungen sind ein Statement für Menschlichkeit, Offenheit und ein gemeinsames Miteinander. Eben eine Frage der Haltung.

 

Dr. Gregor Ohlerich, Freier Lektor ( Innsbruck)

Zeitschrift Systhema – Heft 1 – 2024