„Es zählen auch die kleinen Schritte“
Seit mehr als 13 Jahren arbeitet Kristina Sellmayr bei dem in Berlin-Hohenschönhausen beheimateten anerkannten Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe FamilienANlauf e.V. (FAN). Als ausgebildete Sozialpädagogin und systemische Familientherapeutin verfügt sie sowohl über Erfahrungen in der ambulanten Erziehungshilfe als auch in der direkten Arbeit mit geflüchteten Kindern und deren Angehörigen. 2017 erschien im Vielfalt Verlag zur letztgenannten Thematik ihr Buch „Und ich lebe doch!“. Als direkte Fortsetzung wurde „Mittendrin – Tradition, Aufbruch, ein Hauch von Freiheit“ im Jahr 2021 veröffentlicht.
Nachfolgendes Interview mit Kristina Sellmayr entstand im Rahmen eines Workshops.
Du bist beruflich seit fast zehn Jahren ganz nah bei geflüchteten Kindern und deren Angehörigen. Wie begann alles und was stand damals im Mittelpunkt Deiner Arbeit?
Es begann alles eigentlich ganz zufällig. Die Direktorin einer Schule, mit der unser Träger kooperiert, fragte bei uns nach, ob ich im Rahmen des Bonusprogramms Brennpunktschulen mit geflüchteten Kindern und deren Familien arbeiten würde. Ich war neugierig und dachte, ein Jahr kann ich das ja mal ausprobieren. Dann habe ich Feuer gefangen und bin bis jetzt geblieben. Ziel war damals ebenso wie heute die Förderung von Spracherwerb und Sprachkompetenz, Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Sprachen sowie die Einbindung und Stärkung der Eltern.
Ein konkreter Schritt am Beginn war der Aufbau der Schulbibliothek als zentraler Ort und Anlaufstelle für alle Mädchen und Jungen. Eines Ortes also, der sich zwar in der Schule befindet, jedoch vom offiziellen Unterricht räumlich und inhaltlich etwas entfernt ist. Wenn man so will, entstand ein Setting der etwas anderen Art.
Aus sozialpädagogischer Sicht war die Arbeit in den Willkommensklassen das Zentrum. Das bedeutete die Begleitung der Lehrer im Unterricht, Einzelförderung, Elterngespräche. Aber auch – und dies war uns allen stets wichtig – dass die Kinder lernen, über Probleme und Ängste zu sprechen, ohne verurteilt zu werden und somit ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Gerade bei den Mädchen spielte dies eine große Rolle, die mitunter auch Rückschläge mit sich brachte. Besonders am Herzen lag mir die Begleitung traumatisierter Kinder.
Du beschreibst in den biographischen Episoden das gesamte Spektrum der menschlichen Gefühlswelt. Dabei werden auch Ereignisse nicht ausgespart, in denen zum Beispiel afghanische Mädchen und Frauen auch hier von archaischen Verhaltensweisen bedroht werden. Andererseits schilderst Du erstaunliche Entwicklungen von Mädchen und Jungen, die alte Fesseln abwerfen und deren Persönlichkeit sich in Freiheit teilweise atemberaubend zum Positiven verändert. Was hat Dich dabei am meisten freudig berührt und was hat Dich zornig oder traurig gemacht?
Für mich ist es erfüllend, jeden Tag zu sehen, mit welcher Hoffnung, welcher Neugier, welchem Mut und Stärke die Kinder ihren Alltag meistern, unabhängig davon, was sie erlebt haben. Da ist so viel Motivation und Sehnsucht zu erkennen. Dies natürlich persönlich bedingt in einer unterschiedlichen Intensität, aber der Wille, sich im deutschen Schulsystem zu behaupten und den eigenen Träumen von Freiheit und unbeschwerten Glück zu folgen, ist bei fast jedem Mädchen und fast jedem Jungen beinahe mit den Händen zu greifen. Sie verstehen es noch nicht so ganz, aber sie fühlen die große Chance in ihrem Leben. Und dass sie es selbst steuern können und sich nicht irgendwelchen Traditionen beugen müssen.
Ihre von Herzen kommende Dankbarkeit, wenn man ihnen dabei hilft oder einfach nur an ihrer Seite steht, ist nicht nur für mich eine berührende Angelegenheit. Viele vergessen nie die offene und ehrliche Unterstützung. So halten Kinder, die inzwischen Jugendliche sind und ihre ersten Abschlüsse erreicht haben, immer noch Kontakt zu uns. Sie sind stolz und sie möchten, dass auch wir stolz sind. Ich sage „wir“, weil ich seit Beginn der Arbeit mit der Schulmediatorin Sabina Salimovska vom Träger RAA e.V. im Team arbeite, die selbst einen Migrationshintergrund hat. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass die Integration manchmal eine Doppelschleife dreht. Das kann schief ausgehen. Es kann jedoch auch ein ungeahnter Triumph im zweiten Anlauf sein. Die Gemeinsamkeit mit ihr bringt mir auch jetzt noch nach Jahren viel an Zuversicht.
Zornig macht mich, dass die Strukturen des Schulsystems diesen Mädchen und Jungen oft nicht die Chance geben, gleichberechtigt mit den anderen Kindern Bildung zu erwerben und es immer vom Einsatz der Lehrer*innen abhängt, welcher Bildungsweg letztlich eingeschlagen wird.
Zornig macht mich ebenso, dass diesen Kindern oft zu wenig Zeit gegeben wird, um hier anzukommen, das Erlebte zu verarbeiten und dann die deutsche Sprache gut zu erlernen, um in der Regelschule eine Chance zu haben. Ist diese Zeitspanne zu kurz, droht ihnen ein diagnostisches Feststellungsverfahren, was oftmals nicht nötig gewesen wäre, weil einfach der Spracherwerb noch nicht ausreichend war. Müssen diese Kinder dann in eine Förderschule wechseln, ist der weitere Weg bereits vorgezeichnet. Das ist eine völlig überflüssig Blockade von Lebenschancen, die mich fassungslos und traurig auf die bürokratisch-schematische Handhabung von veralteten Leitlinien und das Wegsperren von Empathie blicken lässt. Jede gestohlene Chance ist eine zu viel.
Ein Beispiel: Der damals 12jährige Murat hatte noch sprachliche Defizite. Dies hatte beinahe seinen Wechsel von der Regelschule zur Förderschule mit sich gebracht. Die Entscheidung seiner Lehrer, ihm mehr Zeit zu geben, zahlte sich aus. Jetzt ist Murat in der 11. Klasse und macht sein Fachabitur am OSZ Büromanagement und Wirtschaftssprachen.
Ganz aktuell finde ich die Entwicklung schwierig, dass ukrainische Familien und Kinder anders, d.h. barriereärmer und unbürokratischer behandelt werden in Bezug auf Bildung, Wohnung, Arbeitserlaubnis, Aufenthalt. Das ist Thema bei den anderen Kindern und Familien. Solche Probleme sind hausgemacht und müssten wirklich nicht sein. Dazu gehört auch, dass es erstaunlicherweise immer noch Vorurteile von Fachkräften gegenüber bestimmten Personengruppen – wie zum Beispiel Roma – gibt. Als Pädagog*in sollte man zumindest unvoreingenommen an den Start gehen.
Im Vorjahr erschien im Vielfalt Verlag Dein Fortsetzungsbuch. Darin erfährt der Leser wie es manchen Kindern und Jugendlichen, über die im ersten Buch berichtet wurde, in der Zwischenzeit ergangen ist. Wie hast Du es geschafft, dass die Verbindungen über viele Jahre nicht abgerissen sind?
Es gibt Kinder und deren Familien, mit denen wie viele Erlebnisse teilen. Sie waren lange bei uns, es entstand dabei ein großes Gefühl von Vertrauen und Sicherheit. Das vergisst keiner. Die Mädchen und Jungen suchen den Kontakt zu uns bei auftauchenden Problemen in der neuen Schule, aber auch, um ihre Zeugnisse zu zeigen. In ihren Augen ist dann so ein Glanz der Zuversicht, dass sie die neue Etappe schaffen und wir das auch sehen. Dies sind für uns sehr besondere Momente.
Andere Kinder hingegen verschwinden längere Zeit und tauchen plötzlich wieder in der Schule auf. Sie sind wie Wanderer, die mal kurz im Basislager Station machen, um dann erneut loszuziehen. Es ist so, als wollten sie sich vergewissern, dass die „Stallwache“ noch da ist.
Leider ist immer wieder – nicht nur bei Zwischenfällen – davon zu hören und zu lesen, dass die Integrationsmaßnahmen staatlicherseits eher einer Fieberkurve gleichen. Besonders auffällig ist dies wohl auch bei der psycho-sozialen Versorgung, beruflichen Begleitung und Beratung von Frauen und Mädchen. Ausgehend von Deinen langjährigen Erfahrungen – was wünschst Du Dir von einer passgenauen Integrationspolitik?
Wichtigste Grundlage ist unbestritten eine durchdachte Bildungspolitik, ausgebildete Lehrer*innen, und faire Bildungsangebote, die auf die persönlichen Erfordernisse eingehen. Und natürlich, dass alle Angebote verlässlich vernetzt sind. Ein Schwerpunkt für mich war stets die Förderung von Mädchen und Frauen. Meine Erfahrungen besagen, dass dies jedoch nur zufriedenstellend gelingt, wenn man die Brüder und Ehemänner miteinbezieht. Wenn sie dadurch zum Beispiel verstehen, dass durch solche Entwicklungen der Stellenwert ihrer Familie in der jeweiligen Community an Gewicht und damit Respekt gewinnt.
Generell wünsche ich mir, dass die Kinder mehr Zeit und Raum zum Ankommen erhalten, ihr Erlebtes berücksichtigt wird und die Unterbringungspolitik zügiger agiert. Zu kurz kommt aus meiner Sicht auch die Kommunikation auf Augenhöhe. Wer als Helfer*in entsprechend des Grundsatzes – „ich weiß, was für dich gut ist“, die Geschicke beeinflussen will, baut sich selber hohe Hürden auf. Es ist schon eine Balance zwischen der Durchsetzung von Notwendigkeiten und der Freiheit des Einzelnen zu finden. Vertrauen ist dafür eine unerlässliche Basis. Ansonsten ist das Scheitern von wirklicher Integration schon vorprogrammiert. Problematisch sind in diesem Zusammenhang auch die exklusiven Angebote für geflüchtete Menschen aus bestimmten Ländern.
Unbedingt mehr zu tun gibt es bei der Unterstützung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete, für den Familiennachzug. Ist der realisiert, lehnt sich der Staat scheinbar oft mit gutem Gewissen zurück und gibt die Verantwortung ab. Das ist falsch und in gewisser Hinsicht auch gefährlich. Die Familien dürfen dann nicht sich selbst überlassen bleiben – man denke nur an die komplizierten behördlichen Angelegenheiten. Vielmehr müsste dann ein Netzwerk für berufliche und schulische Ausbildung, für Sprachkompetenz und Talenteförderung greifen. Leider ist dies oft ein Wunschtraum – aber es zählen auch die kleinen Schritte. Den Jahrhundertsprung in der Integration gibt es sowieso nicht.
Quelle: familienanlauf.de